Am
heutigen Donnerstag (16.5.2019) findet die erste Lesung des Geordneten
Rückkehrgesetzes im Deutschen Bundestag. Die Kampagne 100 Jahre
Abschiebehaft kritisiert das Gesetz scharf. Es wird zu einer massiven
Ausweitung der Anwendung von Abschiebehaft führen.
Innenminister
Horst Seehofer plant seit seiner Amtseinführung an Gesetzen, welche die
Situation von geflüchteten Menschen verschlechtern. Als nächstes Gesetz
soll das Geordnete-Rückführungs-Gesetz eingeführt werden.
Durch
das Gesetz sind Ausschluss gesellschaftlicher Teilhabe durch eine
‚Duldung light‘ sowie eine massive Ausweitung von Abschiebehaft geplant.
Unter anderem soll eine Beugehaft neu aufgenommen werden, um
geflüchtete Menschen zu zwingen, bei ihrer Identitätsfeststellung
mitzuwirken. Sie können hierzu bis zu zwei Wochen inhaftiert werden.
Erneut
eingeführt werden soll, dass Abschiebegefangene und Strafgefangene
zusammen in ein Gefängnis untergebracht werden dürfen. Solch eine
Gesetzespassage hat es bereits einmal in Deutschland gegeben. Der
Europäische Gerichtshof hat jedoch im Jahre 2014 geurteilt, dass dieses
nicht mit der europäischen Rückführungsrichtlinie übereinstimmt und
daher unrechtmäßig ist. Daher haben bereits im Vorfeld elf Innenminister
der Länder erklärt, dieses nicht anwenden zu wollen. Seehofer beruft
sich nun auf einen Passus in der Rückführungsrichtlinie, wonach dieses
in einem Notstand vorübergehend möglich ist. „Wo Seehofer diesen
Notstand nun sieht, bleibt vollkommen unklar. Deutschland hat bereits
jetzt mehr als ausreichend Haftplätze für Abschiebegefangene und weitere
Abschiebegefängnisse sind in Bau“, so Frank Gockel, Pressesprecher der
Kampagne 100-Jahre-Abschiebehaft.
Der
erste Referentenentwurf sah noch vor, dass Menschen ohne richterlichen
Beschluss bis zu 10 Tage inhaftiert werden durften. Dieses wurde
zwischenzeitlich geändert. „Dieses macht deutlich, dass Seehofer zur
Bekämpfung von Flüchtlingen sogar bereit ist, dass Grundgesetz und den
Rechtsstaat zu missachten“, so Gockel.
Am
16.5.2019 wird das Gesetz in erster Lesung im Bundestag behandelt. Die
Kampagne 100 Jahre Abschiebehaft hofft, dass die anderen Parteien sich
intensiv mit dem Gesetz auseinandersetzen. Aus ihrer Sicht kommt es nun
darauf an, dass die SPD standhaft bleibt. „Sie muss sich nun
entscheiden, ob sie der Orbanisierung der CSU/CDU blind folgt oder sich
an Grund- und Menschenrechten orientiert, um geflüchteten Menschen
gerecht zu werden“, so Gockel.
Gockel
weiter: “Die rechtsstaatlichen Institutionen und Prinzipien, mit denen
offen gebrochen werden sollen, nur um Entrechtung und Ausgrenzung
durchzusetzen, ist unerträglich! Wir schließen uns der Aufforderung von
PRO ASYL und Landesflüchtlingsräten an und fordern die Abgeordneten dazu
auf, das Gesetz abzulehnen.”
In
zehn Bundesländern waren am vergangenen Wochenende Menschen gegen
Abschiebehaft und das Geordnete-Rückkehr-Gesetz auf der Straße. Sie
forderten ein Ende der hundertjährigen Geschichte der Abschiebehaft. In
Pforzheim wurde ein Inhaftierter gewaltsam daran gehindert, per Telefon
an der Demonstration teilzunehmen.
Knapp
2.000 Leute demonstrierten vergangenes Wochenende in Berlin, Büren,
Darmstadt, Halle, Dessau, Dresden, Glückstadt, Eichstätt,
Hannover-Langenhagen, Mainz und Pforzheim gegen Abschiebehaft. Neben
Demonstrationen gab es ein Straßenfest in Dessau und eine Fahrraddemo in
Glückstadt. Auf verschiedene Weise nahmen Inhaftierte in einigen
Städten mit den Demonstrant*innen Kontakt auf. Per Telefon, durch das
Klopfen an Fensterscheiben oder durch das Herausstrecken von Händen
durch die Gitterstäbe. “Gewöhnliche Demonstrationen waren das nicht.
Teilnehmer*innen erzählten, dass diese Momente sie sehr berührt und in
ihrem Aktivismus bestärkt haben hätten” führt Gockel aus:
“Ehrenamtliche Initiativen, kirchliche Gemeinden, Schutzsuchende,
antifaschistische Netzwerke, Asylberater*innen – unsere Kampagne wird
von einem breiten, zivilgesellschaftlichen Bündnis getragen.” so Frank Gockel, Pressesprecher der Kampagne 100 Jahre Abschiebehaft.
Erst
kürzlich hatte das Anti-Folter-Komitee des Europarats die Bedingungen
der Haftanstalt Eichstätt deutlich kritisiert. Die nationale
Folterkommission übte zudem bereits 2018 massive Kritik an den Zuständen
im Darmstädter und Bürener Abschiebegefängnis. Unter anderem sei in
Eichstätt nicht in ausreichendem Maße für Suizidprävention gesorgt. “Eine
Bewertung, die für Abschiebehaft überhaupt gilt. Als Haft ohne Straftat
ist sie eine enorme Belastung für die Betroffenen, die dort in hohem
Maße Retraumatisierungen ausgesetzt sind.” so Gockel.
Obwohl
Abschiebehaft sich deutlich von Strafhaftvollzug unterscheiden muss,
gibt es zahlreiche Berichte von willkürlichen Zwangsmaßnahmen und
Isolierhaft. In Pforzheim zeigte sich dies während der Demonstrationen
ganz plastisch: Als ein Inhaftierter im dortigen Abschiebegefängnis per
Telefon zur Demonstration geschaltet werden wollte, um von seinem Recht
auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen, stürmten 30 Beamt*innen
seine Zelle, und ordneten ihm bis Montag, 13. Mai, Isolationshaft an. “Hier
zeigt sich auf beschämende Weise das Unrecht, das Geflüchteten
insbesondere in Abschiebehaft widerfährt: Sie werden aus
Verwaltungsgründen weggesperrt und mit aller Gewalt wird ihnen dabei ihr
Recht auf freie Meinungsäußerung genommen! Das ist bar jeglicher
Rechtsstaatlichkeit“, befindet Gockel.
Arbeitsgruppe
kritisiert mangelnde Kontrolle und zahlreiche Missstände in
Pforzheimer Haftanstalt
Die
Arbeitsgruppe Abschiebehaft Pforzheim ist besorgt über die Situation
in Baden-Württembergs Abschiebehafteinrichtung. Bei einem
Pressegespräch am Mittwoch informierte die Gruppe aus haupt- und
ehrenamtlich Tätigen über ihre Erfahrungen in der Arbeit mit
Menschen in Abschiebehaft, und beklagten dabei gravierende Mängel.
Weil
die Abschiebehaft keine Strafhaft ist, sondern „lediglich” der
Sicherung der Abschiebung dient, müssten die Bedingungen innerhalb
der Haftanstalt eigentlich weniger restriktiv sein als die für
Personen, die wegen begangener Straftaten hinter Gitter sitzen. Doch
in Pforzheim sei dies nicht der Fall, eher im Gegenteil – so die AG
Abschiebehaft, die sich Mitte April mit einem offenen Brief an
Verantwortliche in Politik und Verwaltung gewandt hat, um die
festgestellten Missstände anzuprangern.
„Aus
Statistiken von Anwälten und Beratungsstellen ist bekannt, dass ein
erheblicher Anteil der Inhaftierungen in der Abschiebehaft – rund
50% – rechtswidrig sind”,
erklärte Christian Schmidt vom Forum Asyl Pforzheim. Umso wichtiger
ist es nach Überzeugung der Arbeitsgruppe, dass die Inhaftierten
Zugang zu Unterstützung und Beratung haben. Doch dies werde in
Pforzheim massiv erschwert.
„Wir
würden gerne kontrollieren, ob die Inhaftierungen rechtmäßig sind.
Aber ich kann nicht einfach reingehen und eine offene Beratungsstunde
anbieten, sondern werde wie eine normale Besucherin behandelt und
kann immer nur gezielt eine bestimmte Person besuchen, dessen Namen
ich kenne. So können nur diejenigen beraten werden, die auf uns
zukommen. Wer nicht von unserem Angebot weiß, kann auch keine
unabhängige Beratung erhalten”,
berichtete Kirsten Boller, die im Auftrag von Caritas und Diakonie
als Kontakt- und Beratungsstelle in der Abschiebehaft fungiert.
„Viele
der Inhaftierten verstehen die Verfahren nicht und verstehen nicht,
warum sie im Gefängnis sitzen, ohne eine Straftat begangen zu
haben”,
betonte Anna Roß von Amnesty International. Aus ihrer Sicht müssten
Inhaftierte in der Abschiebehaft Pflichtverteidiger zugeteilt
bekommen – so wie es in Strafsachen vorgeschrieben ist. Die
ehrenamtliche Beraterin berichtete von Fällen, in denen Väter von
Patchwork-Familien oder von ungeborenen Kindern in der Abschiebehaft
saßen. Auch Traumatisierte oder chronisch Kranke seien keine
Seltenheit.
„Eine
dringend notwendige psychologische Betreuung findet faktisch nicht
statt. Ähnlich sieht es bei schweren physischen Krankheiten und
Verletzungen aus”,
berichtete Pfarrer Andreas Quincke, der evangelische Seelsorger in
der Hafteinrichtung. Er schilderte einen Fall, in dem er einen
dringend benötigen Augenarzttermin für einen Inhaftierten
organisierte, die Zuständigen in der Abschiebehaft sich einfach
weigerten, den Betroffen dort hinzubringen.
„Mit
den Kranken ist es ähnlich wie mit den auf rechtlich fragwürdiger
Grundlage Inhaftierten, die mangels Zugang zu Beratung und
anwaltlicher Unterstützung nichts gegen ihre Inhaftierung
unternehmen können: Der Anstaltsleitung scheint es ganz recht zu
sein, dass da niemand zu genau hinschaut. Im Zweifel hat man dann
eben eine Abschiebung mehr erreicht – das gilt ja heutzutage
grundsätzlich als Erfolg”,
so Pfarrer Quincke.
Die
fehlende Transparenz, die nach Auffassung der AG Abschiebehaft
durchaus von verantwortlicher Stelle gewollt zu sein scheint,
kritisiert auch Christian Schmidt vom Forum Asyl Pforzheim. Anfangs
habe man Hoffnungen in den gesetzlich vorgeschriebenen Beirat
gesetzt, der formal das Recht hat, unangemeldete Besuche
durchzuführen und die Inhaftierten in ihren Zellen aufzusuchen.
„Diese Hoffnung hat sich schnell erledigt, denn der Beirat führt
lediglich nach Absprache mit der Anstaltsleitung angemeldete Besuche
durch und unterbreitet den Verantwortlichen unverbindliche
Anregungen, die diese folgenlos ignorieren können. Der Beirat kann
eventuelle Kritik oder Missstände nicht nach außen tragen, wenn die
Anstaltsleitung und das Innenministerium nichts unternehmen. Deshalb
hat dieser Beirat lediglich eine Alibi-Funktion”, so
Schmidt.
Kirsten
Boller betonte, dass das, was die Arbeitsgruppe in Pforzheim fordert,
keineswegs illusorisch sei. In anderen Bundesländern sei es absolut
normal, dass es in der Haftanstalt ein eigenes Büro für eine
unabhängige Beratungsstelle gibt, die regelmäßige offene
Sprechstunden anbieten kann.
Woanders
üblich und völlig unstrittig ist auch das Recht auf die Abhaltung
religiöser Feiern. Doch in Pforzheim endet auch dieses Recht an der
Gefängnispforte, wie Andreas Quincke beklagt: „Im
Abschiebehaftgesetz steht zum Thema Religion leider nur ein Satz:
Dass die Inhaftierten das Recht auf Kontakt zu einem Seelsorger ihrer
Religion haben. Die maximal restriktive Linie der Anstaltsleitung
sieht so aus, das genau dies gewährt wird, aber auch wirklich nur
dies. Das heißt, dass Seelsorge nur in Einzelgesprächen stattfinden
kann. Ein christlicher Gottesdienst, ein islamisches Freitagsgebet
oder auch eine interreligiöse Feier, wo sich mehrere Personen
versammeln – all diese Sachen sind in jeder Justizvollzugsanstalt
völlig normal, doch hier werden sie ohne Begründung schlicht
untersagt. Das halte ich für einen Skandal.” Die Seelsorger
werden ebenfalls wie besuchende Privatpersonen behandelt, während in
anderen Abschiebehafteinrichtungen und Justizvollzugsanstalten
Seelsorgende meist einen ungehinderten Zugang haben.
„Wir
haben den Dialog mit der Anstaltsleitung und mit dem Beirat gesucht,
wir haben auch mit Landes- und Bundestagsabgeordneten gesprochen.
Aber an den Zuständen hat sich nichts geändert. Deshalb haben wir
beschlossen an die Öffentlichkeit zu gehen”,
erklärte Christian Schmidt. Zudem sagte er mit Blick auf die Pläne
von Bundesinnenminister Seehofer nach Gesetzesverschärfungen
bezüglich Abschiebehaft: „In
Pforzheim braucht man diese Verschärfungen nicht. Denn restriktiver
als es jetzt ist kann man es eigentlich ohnehin nicht mehr machen.”
Aus
seiner Sicht besteht ein Zusammenhang zwischen den
Gesetzesverschärfungen, den Missständen in der Abschiebehaft und
den gesellschaftlichen Rechtsruck. Auch deshalb erfolgte der Hinweis
auf die Demonstration am Samstag gegen den Aufmarsch der Partei „Die
Rechte”. Die Gegendemonstration beginnt um 11 am Hauptbahnhof
und wird zwischen 12 und 13 Uhr an der Abschiebehaft sein.
Die Kampagne „100 Jahre Abschiebehaft“ (100-jahre-abschiebehaft.de) erinnert an das bundesweite Aktionswochenende gegen Abschiebehaft vom 10. bis 12. Mai und ruft dazu auf, sich aktiv an den vielfältigen Protesten zu beteiligen und weitere zu initiieren. Die beteiligten Organisationen, Aktivist*innen und Einzelpersonen fordern die Abschaffung der Abschiebehaft und solidarisieren sich durch Demonstrationen und weitere Aktivitäten mit den Inhaftierten. Außerdem fordern sie den Abbruch des Gesetzesvorhabens „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ und weiterer Asylrechtsverschärfungen.
Bislang sind in mindestens zehn Bundesländern mehrere Aktivitäten geplant1. Dabei finden Demonstrationen und Kundgebungen unter anderem in Dresden, Darmstadt, Eichstätt, Büren (NRW), Mainz und Ingelheim statt. Andere Demonstrationen fügen sich in weitere Proteste ein: So richtet sich die Demonstration in Pforzheim auch gegen einen Aufmarsch der Partei „Die Rechte“. In Bamberg wird zugleich gegen die menschenunwürdigen ANKER-Zentren demonstriert und in Hannover gegen die geplanten Verschärfungen des Polizeigesetzes.
In
Dessau macht ein Bündnis mit einem interkulturellen Fest
„Spielplätze statt Haftplätze“ auf die Pläne Sachsen-Anhalts
aufmerksam, Kinder bis zu 18 Monate inhaftieren zu wollen, weil sie
bzw. ihre Eltern nicht ausgereist sind. In Glückstadt kommen
Menschen aus Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein
im Rahmen einer Fahrraddemonstration und eines Sternmarsches
zusammen. In
Berlin-Schönefeld richtet sich eine Demonstration gegen die
Errichtung eines neuen Ausreisegewahrsams und
gegen
das Geordnete-Rückkehr-Gesetz.
Agnes
Andrae, Pressesprecherin der Kampagne, ist sich sicher, „der
Protest wird vielfältig! Macht mit, beteiligt euch an den Aktionen –
und plant eigene. Lasst uns ein Zeichen setzen und das 100-jährige
Elend beenden – gemeinsam gegen Abschiebehaft!“
Die Abschiebehaft in Deutschland begeht dieses Jahr ein trauriges Jubiläum: Sie wird 100 Jahre alt. Abschiebehaft macht nicht nur krank, sie hat auch unmenschliche Wurzeln: Am 25. Mai 1919 wurde sie in Bayern eingeführt, um Jüd*innen aus Osteuropa zu internieren und außer Landes zu treiben. Diese Sonderhaft für Ausländer*innen soll nach Plänen der Bundesregierung nun mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz nochmals exzessiv ausgebaut werden, um mehr Abschiebungen durchzusetzen – „koste es, wen auch immer, was auch immer es wolle“, so Andrae abschließend.
Das Magazin
Hinterland widmet sich dem Schwerpunkt 100 Jahre Abschiebehaft in
einer eigenen Ausgabe. Das Magazin kann unter:
http://www.hinterland-magazin.de/
online gelesen und bestellt werden.
Weitere
Informationen finden Sie auf der Homepage der Kampagne unter: